Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Liebe Leserin,
lieber Leser!

Es ist altbekannt: der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Alles, was wir gewohnt sind, kommt uns normal und natürlich vor, das Ungewohnte wirkt seltsam, verschroben oder gar verrückt. Wenn uns heute etwa jemand auf der Straße begegnet, der wie jemand aus dem achtzehnten Jahrhundert gekleidet ist, sind wir erst einmal überrascht, vielleicht auch amüsiert. Die in unseren Augen seltsame Kleidung wird auf jeden Fall unsere Aufmerksamkeit erregen. Dabei haben sich die Menschen vor dreihundert Jahren so gekleidet, ohne dass ihnen die vermeintliche Eigenartigkeit dieser Mode aufgefallen wäre. Des Rätsels Lösung ist natürlich ganz einfach: wir finden diese Art von Kleidung heute nur deshalb seltsam, weil wir sie schlichtweg nicht gewohnt sind. Wenn wir jeden Tag nur noch Leute in einer solchen Kleidung sehen würden, wäre das schon nach kurzer Zeit nichts Besonderes mehr.

Die Liste der Dinge, an die wir uns gewöhnt haben, und die wir für normal und selbstverständlich halten, ist naturgemäß ziemlich lang. Unsere ganze Lebens- und Denkweise ist davon betroffen. Beispielsweise sind wir gewohnt zu glauben, wir lebten in einer Demokratie, weil wir alle paar Jahre wählen dürfen, und finden es dabei ganz normal, dass wir zwischen den Wahlen nichts zu sagen haben. Wir sind gewohnt, dass wir in unseren Supermärkten alles bekommen, was man für Geld kaufen kann, obwohl die Menschen anderswo in der Welt unter Mangel oder gar Hunger leiden. Wir sind gewohnt, dass Menschen ein Recht auf Leben haben, finden es aber lächerlich, wenn vorgeschlagen wird, Tieren auch ein solches Recht zuzugestehen.

Ein Blick in die menschliche Geschichte zeigt, dass jede bisherige Generation ihre Lebens- und Denkweise für normal und selbstverständlich gehalten hat. So waren sich etwa die reichen Grundbesitzer in den Südstaaten der USA keinerlei Schuld bewusst, als sie Menschen kauften, um sie als Sklaven auf ihren Plantagen schuften zu lassen. Die Kolonialmächte fanden nichts dabei, sich weite Teile der Erde gewaltsam anzueignen und die Reichtümer fremder Völker auszubeuten. Menschen beiderlei Geschlechts fanden es lange Zeit normal, dass Frauen weder in der Familie noch in der Politik etwas zu sagen hatten.

Heute denken wir, dass solche Vorstellungen unserer Altvorderen grundlegend falsch waren, und betrachten es zu Recht als Fortschritt, dass wir sie – zumindest in unserem Teil der Welt – überwunden haben. Doch was schützt uns davor, den gleichen Fehler zu begehen wie unsere Vorfahren? Genau wie sie finden auch wir unsere heutige Lebens- und Denkweise normal und selbstverständlich. Aber die Tatsache, dass wir gewohnt sind, auf unsere gegenwärtige Art und Weise zu leben, heißt noch lange nicht, dass es sich dabei um die einzig mögliche oder gar beste Art zu leben handelt.

Unsere heutige Lebensweise ist das Ergebnis eines langen kulturellen Entwicklungsprozesses, der vor vielen Jahrzehntausenden seinen Ausgang nahm und bis heute andauert. Unsere kulturellen Wurzeln reichen sogar noch weiter zurück, bis zu den Anfängen der Menschheit im Herzen des afrikanischen Kontinents. Es wäre schon eine seltsame Vorstellung zu glauben, dass die kulturelle Entwicklungsgeschichte des Menschen nunmehr abgeschlossen sei, oder dass sie gar ausgerechnet jetzt ihren Höhepunkt erreicht habe.

Zugegeben: der Mensch ist weit gekommen, seit er die Savannen Afrikas hinter sich gelassen hat. Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit, insbesondere in Hinblick auf das menschliche Zusammenleben, die Technologie und die Wissenschaft, sind enorm. Wir haben das Feuer gebändigt und das Rad, die Schrift und die Mathematik erfunden (auch wenn diese Errungenschaften häufig dazu verwendet wurden, um andere Menschen zu bekämpfen). Wir haben die allgemeinen Menschenrechte zur Grundsäule der modernen westlichen Kultur erhoben (auch wenn ihre Umsetzung – selbst in der westlichen Welt – bislang noch zu wünschen übrig lässt). Wir haben Krankheiten wie die Pest besiegt und die Lebenserwartung auf über siebzig Jahre gesteigert (auch wenn die Bevölkerungsmehrheit auf dem Planeten von vielen medizinischen Verbesserungen aufgrund ihrer Armut ausgeschlossen ist). Wir haben sogar, in einer enormen Anstrengung, Abgesandte unserer Spezies auf den Mond geschickt (auch wenn dieses Unternehmen von einem wahnwitzigen ideologischen Wettlauf zwischen Ost und West genährt wurde, der die Menschheit an den Rand der atomaren Selbstzerstörung geführt hat). Trotz aller Einschränkungen steckt die menschliche Geschichte voller großartiger Leistungen, ohne die unser heutiges Leben nicht denkbar wäre. Welcher Beobachter, der unsere Vorfahren vor Jahrmillionen noch durch die Bäume klettern sah, hätte eine solche Entwicklung für möglich gehalten?

Und doch besteht kein Grund, die Hände gedanklich in den Schoß zu legen und zu glauben, wir hätten den Zenit unserer kulturellen Entwicklung erreicht. Der Mensch ist noch lange nicht am Ende seines Weges angekommen. Das gilt für die Technologie und die Wissenschaft, das gilt aber auch für das menschliche Zusammenleben und das Denken. Das, was wir heute für selbstverständlich und richtig ansehen, wird morgen schon überholt sein. So, wie wir heute über unsere Vorfahren den Stab brechen wegen Sklaverei, Kolonialismus und Völkermord, werden unsere Enkel und Urenkel den Stab auch über uns brechen wegen unserer Vergehen: wegen unserer egoistischen Kleinstaaterei zum Beispiel, wegen des von uns hingenommenen Hungers in der Welt, wegen des Profits, den wir aus den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den armen Ländern schlagen, wegen des leichtfertig verursachten Klimawandels, wegen des millionenfachen Sterbens, das hinter den Toren unserer Schlachthöfe stattfindet.

Eines sollten wir also nicht vergessen: die Entwicklung der menschlichen Kultur, und damit die Entwicklung unserer ganzen Lebensweise, geht weiter. In erdgeschichtlichen Maßstäben hat die zivilisatorische Geschichte des Menschen gerade erst begonnen. Was wir heute erleben ist nichts anderes als eine kurze Momentaufnahme aus den Kindertagen der Menschheit, und nichts daran ist „normal“ oder „selbstverständlich“.

Eine anregende Lektüre in der Bergpostille wünscht

f. s. montanus