Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

An den Ohren liegt es nicht

von

f. s. montanus

Fassung vom 3. März 2015

Ein schönes Städtchen in Deutschland. Es hat gerade eine neue Hauptstraße mit einem hübschen Kopfsteinpflaster bekommen. Von überall her sind die Menschen gekommen, um dieses große Ereignis zu feiern. Die Domknaben tragen ihre Lieder vor. Der Bürgermeister strahlt überschwenglich in die Kameras. Sogar der Minister ist gekommen, um die neue Einkaufsmeile einzuweihen. Er spricht ein paar warme Worte, die ein Reporter von der Lokalpresse gleich in seinen Notizblock schreibt. Nicht weit davon entfernt dreht ein Karussell fröhlich seine Kreise. Zufriedene Eltern winken ihren lachenden Kindern zu. Ein rundum schöner Tag, werden am Ende alle sagen.

Sechs Tausend Kilometer entfernt in einem Steinbruch in Indien ist es leider nicht so schön. Ein Junge sitzt zwischen staubigen Steinbrocken und klopft Pflastersteine. Seine Augen sind stumpf vom Staub, der Staub kriecht tief hinein in seine Lungen. Mit einem Karussell ist er noch nie gefahren, und es ist auch niemand mehr da, der ihm zuwinken könnte. Seine Eltern sind längst gestorben. Hier werden die Menschen im Durchschnitt nur vierzig Jahre alt. Länger ist diese Schufterei kaum auszuhalten. Viele sterben an Silikose, einer besonderen Form von Staublunge.

Das schöne Städtchen in Deutschland feiert bis tief in die Nacht hinein. Der Minister ist schon längst gegangen, aber die Menschen flanieren auf den Straßen. Das Städtchen hat etwas Geld gespart, weil für das Kopfsteinpflaster das billigste Angebot genommen wurde. Unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten müssen, die die Steine zurechtklopfen, und wie schnell sie an ihrer Arbeit sterben, hat keiner gefragt. Das wollte keiner wissen. Alle haben sich nur gefreut über den günstigen Preis. Den Schweiß, die Tränen und den Tod, der an den Steinen klebt, kann man zum Glück nicht sehen oder riechen. Die Steine sehen aus wie ganz normale Steine. Das Elend der Menschen, die die Steine zurechtklopfen, ist unsichtbar. Alle, die hierher kommen, werden nur sagen: „Oh, was für ein hübsches Städtchen. Ist es nicht wunderschön?“

Und während die Menschen dann durch die Straßen flanieren, sitzt irgendwo in einem Steinbruch in Indien ein kleiner Junge und klopft. Tagein, tagaus klopft er Steine. Er ruiniert damit sein Leben, doch er hat keine andere Wahl. Den Nutzen davon haben andere. Den Nutzen haben Menschen, die ein besseres Los in der Lotterie des Lebens gezogen haben als er. Menschen, die es nicht nötig haben, sich bei ihrer Arbeit schmutzig zu machen oder gar ihre Gesundheit zu ruinieren. Der Besitzer des Steinbruchs zum Beispiel, oder die Händler, die die Steine billig aufkaufen und mit sattem Gewinn weiterverkaufen, oder die Steuerzahler, die zwar eine Leistung haben möchten, aber den angemessenen Preis dafür nicht bezahlen wollen. Wenn man ganz, ganz still ist, kann man das Klopfen des Jungen hören. Da, da ist es! Hörst Du es?

Die meisten Menschen hören es freilich nicht. An den Ohren liegt es nicht, die funktionieren wunderbar, eher schon liegt es am Herzen. Denn in den Herzen der Menschen gibt es keinen Platz mehr. Sie sind vollgestopft mit Geld, sie sind verkümmert zu Tresoren. Alle hören nur noch den verlockenden Gesang des Geldes, wie einst Odysseus die Sirenen. Schon der Gedanke an Geld, an mehr Geld, an eingespartes Geld macht die Menschen glücklich, gibt ihnen ein Stück Zufriedenheit, schenkt ihnen Freude. Und macht sie taub für alles andere. Das leise Klopfen eines Jungen in Indien hört da keiner mehr.