Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Die schlimmste Geissel der Menschheit

An einem heißen Nachmittag legte sich Meister Sung unter einem Baum zum Schlafen. Während der alte Mann ruhte, saßen seine Schüler nicht weit entfernt im Schatten einiger anderer Bäume und sprachen miteinander. Bald kam das Gespräch auf die Frage, was die schlimmste Geissel der Menschheit sei.

„Der Hunger“, sagte einer der Schüler. „Der Hunger ist die schlimmste Geissel der Menschheit. Es gibt so viele Menschen, die unter ihm leiden. Und er verursacht einen qualvollen, grausamen Tod.“

„Die Krankheit ist viel schlimmer als der Hunger“, erwiderte ein anderer. „Sie verursacht viel mehr Leid. Ganze Völker werden von Seuchen heimgesucht. Jeder Mensch leidet irgendwann in seinem Leben unter Krankheiten, während der Hunger nur wenige befällt. Die Krankheit ist ganz klar die schlimmste Geissel der Menschheit.“

„Das ist doch alles Unsinn“, warf ein anderer ein. „Die Machtgier ist noch viel schlimmer als Hunger und Krankheit zusammen. Sie führt zur Unterdrückung der Menschen und zu erbarmungslosen Kriegen. Ganze Generationen werden in einen sinnlosen Tod geschickt, nur um den Machthunger einiger weniger für kurze Zeit zu stillen. Die Machtgier ist mit Abstand die schlimmste Geissel der Menschheit.“

„Ihr liegt alle falsch“, rief schließlich ein Vierter. „Die Habgier ist das Schlimmste von allem. Sie führt zu Diebstahl und Mord, zu Kriegen und Raubzügen, zu obszönem Reichtum und bitterer Armut. In ihr ist die Machtgier enthalten, aber sie geht noch weit darüber hinaus. Die Habgier ist die Wurzel allen Übels. Sie ist schlimmer als alles andere.“

Da fingen die Schüler an, lauthals miteinander zu streiten. Einer bezichtigte den anderen des Irrtums. Jeder beharrte darauf, dass seine Antwort die einzig richtige sei.

Der Lärm des Streites drang bis zu Meister Sung, und es dauerte nicht lange, bis er davon erwachte. Der alte Mann seufzte tief beim Anblick der streitenden Schüler. Schließlich erhob er sich von seinem Lager und ging langsam zu ihnen hinüber.

„Warum streitet ihr so erbittert?“, fragte er in seiner stets ruhigen Art. „Man könnte fast meinen, ihr wärt im Krieg miteinander.“

„Wir haben darüber gesprochen, was die schlimmste Geissel der Menschheit ist“, sagte einer der Schüler.

„Soso“, machte der Meister. „Und dabei müsst ihr so laut streiten?“

Die Schüler schauten etwas verlegen zu Boden.

„Seid ihr denn wenigstens zu einem Ergebnis gekommen?“

„Nein“, sagte der erste Schüler halblaut. „Jeder glaubt etwas Anderes. Ich glaube, der Hunger ist die schlimmste Geissel der Menschheit.“

„Es ist die Krankheit!“

„Nein! Die Machtgier!“

„Das ist doch alles Unsinn! Es ist die Habgier!“

Von neuem begann der Streit. Meister Sung hob lediglich die Hand, und allmählich verstummten die Streithähne wieder.

Als es endlich ruhig geworden war, sagte der alte Mann: „Ich finde, in dem, was ihr gesagt habt, steckt durchaus eine Wahrheit: der Hunger, die Krankheit, die Machtgier, die Habgier — sie alle sind schlimme Übel. Sie verursachen viel Leid unter den Menschen. Aber es gibt eine Sache, die finde ich noch viel schlimmer als all das. Es gibt etwas, das noch viel schwerwiegender ist als alles, was ihr genannt habt.“

Der Meister machte eine Pause. Die Schüler schauten ihn erwartungsvoll an.

„Was ich meine“, fuhr er in völliger Gemütsruhe fort, „ist die unselige Rechthaberei, das Besserwissertum, dem viele anheim fallen, ohne es zu merken. Die Rechthaberei duldet keine andere Meinung neben sich. Sie entzweit die Menschen und lässt sie erbittert miteinander streiten. Sie kennt keinen Zweifel, keine Zurückhaltung, sie weiß immer alles ganz genau. Sie ist immer im Recht und alle anderen liegen falsch. Die Rechthaberei macht die Menschen blind für den Irrtum, der überall lauert. Sie macht die Menschen unnachgiebig, unversöhnlich und unduldsam gegenüber anderen. Sie ist die Ursache vieler Kriege und der Ausrottung ganzer Völker. Die Rechthaberei lässt die Menschen töten, im Namen einer Wahrheit, von der keiner weiß, ob sie wirklich die Wahrheit ist, oder nicht doch die Unwahrheit. Sie lässt Köpfe rollen und Scheiterhaufen brennen. Die Rechthaberei findet immer einen Grund, warum andere ausgestoßen, verlacht, verfolgt, gejagt, unterdrückt oder erschlagen werden müssen. Sie weiß ganz genau, woran die Welt erkrankt ist, welche bittere Medizin ihr allein noch helfen kann, und warum die Welt untergeht, wenn die bittere Medizin nicht sofort verabreicht wird. Oft glaubt die Rechthaberei, dass die Welt nur noch mit Mord und Totschlag geheilt werden kann. Für die Rechthaberei sind Mord und Totschlag ganz einfach eine Frage der Gerechtigkeit. Das gerechte Töten für eine gerechte Sache, das ist ihre Erfindung. Mit ihrer Hilfe verstecken sich die Macht- und die Habgier hinter einer Maske der Gerechtigkeit, um so ungestört ihrem schlimmen Treiben nachgehen zu können. Die Rechthaberei ist ein selbstgemachtes Unglück, sie ist kein Unglück, das von außen über die Menschen kommt. Im Gegensatz zu Hunger und Krankheiten ist sie ein vermeidbares Übel. Ohne die Rechthaberei würde es den Menschen viel besser gehen, und doch wollen sie nicht von ihr ablassen. Gerade die, die sich für die Klügsten halten, die Schriften studiert und bei einem Lehrer gelernt haben, laufen am meisten Gefahr, ihr zu erliegen.“

Meister Sung machte wieder eine Pause. Er lächelte milde und schaute die Schüler einen nach dem anderen an. Doch keiner erwiderte seinen Blick, alle schauten zu Boden. Zu sehr schämten sie sich, dass sie selbst so erbittert um eine vermeintliche Wahrheit gestritten hatten.

Schließlich fuhr der Meister fort: „Aus all diesen Gründen finde ich, dass die Rechthaberei die schlimmste Geissel der Menschheit ist. Es kann durchaus sein, dass ich damit falsch liege, aber das ist, was ich denke.“

Der alte Mann wartete, ob noch jemand etwas erwidern wollte, doch es herrschte nur betretenes Schweigen. Da sagte auch der Meister nichts mehr dazu. Er vertraute darauf, dass seine Schüler selbst ihre Lehren aus der Sache ziehen würden, und setzte sich mit ihnen nieder zum Meditieren.

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