Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Der letzte Kanzler der SPD

Ich bin es ja mittlerweile gewohnt, dass mein Opa komische Sachen erzählt. Aber heute war er echt ziemlich neben der Spur.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich mag meinen Opa. Ganz im Ernst. Vor allem rechne ich es ihm hoch an, dass er dicht hält, wenn ich mal zu Hause 'ne kleine Party gebe, während meine Eltern über ein paar Tage weggeflogen sind. Da hat mich Opa noch nie im Stich gelassen. Auf ihn kann ich mich hundertprozentig verlassen. Er sagt zu meinen Eltern kein Sterbenswörtchen. Und auch sonst hält er zu mir, wenn ich mal Mist gebaut habe. Es kommt ja nicht oft vor, aber manchmal passiert es halt einfach, dass etwas schief geht. Und auch da kann ich mich ganz auf Opa verlassen. Nie würde er mich verraten. Er ist echt ein super Opa. Und ich mag ihn wirklich.

Wenn nur sein komisches Gerede nicht immer wäre. Papa meint ja, dass Opa schon ein bisschen wirr im Kopf ist. Das kommt vom Alter, sagt er. Irgendwann werden die grauen Zellen halt immer weniger. Das gibt es oft, wenn die Leute alt werden. Und das ist der Grund dafür, dass Opa oft so unsinniges Zeug redet. Sagt Papa.

Ich gebe es ja ungern zu, aber es sieht mir ganz danach aus, als ob er Recht damit hätte.

Heute war es mit Opa besonders schlimm. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen. Am Besten, ich versuche es einfach der Reihe nach.

Also, ich saß gerade auf der Terrasse im Garten und machte meine Hausaufgaben, als Opa aus dem Haus kam.

„Hallo Tom!“, sagte er. „Schon aus der Schule zurück?“

„Hallo Opa“, gab ich zurück, ohne aufzusehen.

„Und, machst Du Deine Hausaufgaben?“

„Jepp.“

„Was schreibst Du denn?“

„Ich schreibe einen Aufsatz über die SPD.“

„Über die SPD?“

„Ja. Ich bin gerade dabei, alle Kanzler der SPD aufzuzählen. Weißt Du, wer der letzte war?“ Ich schaute meinen Opa fragend an.

„Das weiß ich sogar ganz genau“, erwiderte er fest. Er schien sich seiner Sache völlig sicher zu sein. „Das war Willy Brandt.“

„Nein, Opa.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein. Den hab' ich schon. Es muss Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder gewesen sein. Einer von den beiden. Ich weiß nur nicht, wer zuerst kommt.“

Nachdenklich kaute ich auf meinem Füller herum.

„Schmidt war vor Schröder“, sagte Opa. „Aber bei der SPD waren beide nicht. Das weiß ich ganz genau.“

„Aber das kann nicht sein, Opa. Hier in dem Buch steht es schwarz auf weiß. Siehst Du?“

Ich zeigte ihm die Seite in dem Schulbuch, die ich gerade aufgeschlagen hatte. Alle Kanzler der Bundesrepublik waren darauf abgebildet.

„Da steht es“, erklärte ich ihm. „Unter den Bildern. Hier: Helmut Schmidt, in Klammern: SPD. Und hier —“ Ich zeigte mit dem Finger auf die Stelle. „Gerhard Schröder, in Klammern: SPD.“ Triumphierend schaute ich meinen Opa an. „Da steht es doch!“

Aber Opa schaute gar nicht richtig hin.

„Na und?“, machte er bloß und zuckte mit den Schultern. „Und wenn es hundertmal dort steht. Trotzdem ist es falsch. Man kann nicht alles glauben, nur weil es irgendjemand in ein Buch geschrieben hat.“

Ich verdrehte die Augen. Den Spruch hatte ich schon tausendmal von meinem Opa gehört. Ich dachte, wenn das so weiter geht, sitze ich noch morgen früh an den Hausaufgaben.

Ich verkniff mir eine Antwort und schaute lieber nochmal in das Buch. Irgendwo musste doch stehen, wer wann Kanzler gewesen war. Und tatsächlich, schließlich wurde ich doch noch fündig.

„Na endlich“, sagte ich. „Da steht es ja. Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber Du hast Recht, Opa. Schröder kommt nach Schmidt. Dann war Schröder der letzte Kanzler der SPD.“

„Ich wiederhole mich ja ungern“, erwiderte Opa trocken, „aber Schröder war nicht bei der SPD.“

„Mensch Opa, jetzt fängst Du ja schon wieder damit an. Das hatten wir doch gerade geklärt. Schröder war bei der SPD.“

„War er nicht.“

„War er doch.“

„War er nicht.“

„Ach ja? Wenn er nicht bei der SPD war, bei welcher Partei war er denn dann, hmm?“

Ich schaute meinen Opa herausfordernd an.

„Er war bei gar keiner Partei“, machte dieser ungerührt. „Er war parteilos. Er war in erster Linie auf seiner eigenen Seite. Wenn man so will, war das seine Partei, die Schröder-Partei.“

„Hä? Was soll das denn für eine Partei sein?“, versetzte ich und verzog das Gesicht dabei. „Also ganz ehrlich: ich verstehe wirklich nicht, was Du sagst, Opa. Da halte ich mich doch lieber an mein Buch. Da steht es jedenfalls richtig drin.“

Ich tippte mit dem stumpfen Ende des Füllers auf die Seite, die aufgeschlagen vor mir lag. Aber Opa ließ einfach nicht locker.

„Schröder kann gar nicht Kanzler der SPD gewesen sein“, legte er nach.

„Ach ja? Und warum nicht?“

„Weil es zu der Zeit, als Schröder regiert hat, gar keine SPD mehr gab.“

„Hä? Was redest Du da, Opa? Die SPD gibt es doch! Jeden Abend ist sie in den Nachrichten.“

„Das ist nicht die SPD.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Fassungslos schaute ich meinen Opa an.

„Das ist jetzt aber nicht Dein Ernst, oder?“, fragte ich total entgeistert.

„Das ist sogar mein voller Ernst“, erwiderte er seelenruhig. „Was Du im Fernsehen siehst, ist nicht die SPD. Das sind nur Hochstapler, die behaupten, die SPD zu sein. In Wahrheit ist die SPD schon lange tot.“

Bei diesen Worten fiel mir der Kinnladen herunter. Ich wusste beim besten Willen nicht mehr, was ich dazu noch hätte sagen sollen.

„Du musst wissen“, fuhr Opa fort, „dass die SPD einmal eine große und wichtige Partei war. Eine Partei, die auf der Seite der ökonomisch Schwachen stand, um sie vor den ökonomisch Starken zu schützen. Doch eines Tages änderte sich das, weil die SPD, so wie das halbe Land, von einem Virus infiziert wurde.“

„Von einem Virus?“, versetzte ich ungläubig.

„Ja, von einem Virus.“

„Von was für einem Virus?“

„Vom Virus der blinden Marktgläubigkeit.“

„Hä?“, machte ich und schüttelte den Kopf dabei. „Das ist doch kein Virus.“

„Das ist sogar ein ganz verbreitetes Virus. Es ist ein Virus, das nicht den Körper, sondern den Geist befällt. Es lässt die Menschen glauben, dass es das Beste für alle wäre, wenn wir völlig nach den Regeln der Märkte leben würden. Mit wenig Staat, aber dafür mit viel Wettbewerb und viel Eigenverantwortung.“

Bei diesen Worten winkte ich ab. Damit kannte ich mich nämlich bestens aus.

„Was soll denn daran so schlimm sein?“, lachte ich. „Das hatten wir schon in der Schule. Wettbewerb und Eigenverantwortung sind etwas Gutes. Das weiß doch jedes Kind.“

Opa schaute mich über den Rand seiner Brille hinweg an.

„Fragt sich nur: gut für wen?“, wollte er wissen.

„Na, für alle.“

„Schön wär's“, versetzte er. „Aber leider ist es nicht so. Wettbewerb ist nämlich vor allem gut für die Starken, aber nicht für die Schwachen. Im Wettbewerb mit den Starken haben die Schwachen kaum eine Chance. Und mit der Eigenverantwortung verhält es sich ganz ähnlich. Auch sie ist etwas, das die Starken eher leisten können als die Schwachen.“

„Also in der Schule hab' ich das aber anders gelernt, Opa.“

„Das kann schon sein. Das liegt daran, dass die Schulen oft von dem gleichen Virus infiziert sind. Genauso wie die meisten Parteien. Und irgendwann erwischte es eben auch die SPD. Das Virus setzte sich im Hirn der Partei fest und ließ sie glauben, das Soziale, für das sie so lange gekämpft hatte, wäre eine Art Krankheit, ein Krebsgeschwür, das in ihr wucherte, und das unbedingt beseitigt werden müsste. So kam es schließlich dazu, dass die SPD einen folgenschweren Fehler beging.“

„Was hat sie denn gemacht?“, wollte ich wissen.

Opa zog die Augenbrauen hoch. Tiefe Falten erschienen auf seiner Stirn.

„Das will ich Dir sagen“, fuhr er fort. Seine Stimme klang irgendwie resigniert. „Sie hat sich das Soziale, dieses vermeintliche Geschwür, aus ihrem Fleisch herausgeschnitten. Das hat sie gemacht. Was sie aber nicht wusste, und das war wirklich tragisch, war: das, was sie sich herausgeschnitten hatte, war kein Krebsgeschwür gewesen, sondern ihr Herz. Seitdem ist die SPD tot. Was übrig geblieben ist, ist nur noch eine leere Hülle. Und diese Hülle geistert jetzt als Untoter durch die politische Landschaft. Als Zombie, der unter Phantomschmerzen leidet, weil er das, was er sich herausgeschnitten hat, immer noch schmerzhaft spürt. Aber in Wirklichkeit ist es nicht mehr da.“

Ich runzelte die Stirn und schaute meinen Opa schief von der Seite an.

„Ahhhhhh jaaaa“, machte ich gedehnt. „Was Du da erzählst, ist aber ziemlich schräg, Opa!“

„Findest Du?“

„Jaaaa“, prustete ich heraus und nickte dabei heftig. „Unheimlich schräg sogar. Die SPD als Zombie, der sich selbst das Herz herausgeschnitten hat. Mensch Opa, sowas kannst Du doch nicht im Ernst erzählen!“

Doch er zuckte nur mit den Schultern.

„Du musst es ja nicht glauben“, sagte er. „Wie Du willst. Aber so war das mit der SPD. Ich habe es selbst miterlebt.“

„Ja, ja“, machte ich amüsiert. Was mein Opa schon alles miterlebt hatte! Diesen Spruch hatte ich schon tausendmal von ihm gehört.

Aber dann schossen mir auf einmal die Hausaufgaben durch den Kopf, und mir war gar nicht mehr zum Lachen zu Mute.

„Besser, Du lässt mich jetzt meinen Aufsatz fertig schreiben“, versetzte ich leicht entnervt. „Sonst wird das gar nichts mehr heute mit den Hausaufgaben. Um drei kommmen Linus und Tobi vorbei. Bis dahin muss ich fertig sein.“

Ich beugte mich wieder über mein Buch und kaute auf dem Füller herum.

„Ich wollte Dir nur helfen“, entschuldigte sich Opa. „Aber kein Problem. Ich lasse Dich in Ruhe arbeiten. Ich muss sowieso noch nach den Rosen sehen. Ich glaube, die könnten Wasser gebrauchen.“

Er holte die Gießkanne aus dem Gartenhäuschen und verschwand hinter dem Haus, während ich mich wieder in meine Hausaufgaben vertiefte.

Den Aufsatz hatte ich dann gerade noch rechtzeitig fertig bekommen, bevor Linus und Tobi kamen. Als wir zusammen Social Darwinism 3 spielten, war ich trotzdem irgendwie nicht ganz bei der Sache. Ich musste die ganze Zeit an das denken, was mein Opa erzählt hatte. Sein Gerede hatte mir richtig Angst gemacht. Auch jetzt lässt es mich immer noch nicht los. Das ist echt wirres Zeug gewesen. Dieses Gerede von Viren und Zombies und ökonomisch Starken und Schwachen. Das macht doch gar keinen Sinn.

Ich frage mich, wo das mit Opa noch hinführt. Wenn das so weiter geht, weiß ich echt nicht, was noch werden soll.