Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Das Denkerlein, das dachte, es sei ein Philosoph

von

f. s. montanus

Fassung vom 3. Januar 2017

Es war einmal ein kleines Denkerlein, das dachte, es sei ein Philosoph. Und weil viele andere ebenso dachten, wurde es auf einen Stuhl berufen, um sich darauf hinzusetzen, tiefe Gedanken zu denken und die Menschen zu belehren.

Jedes Mal, wenn das Denkerlein den Mund aufmachte, gab es unfassbar komplizierte Gedanken von sich. Seine Sätze waren so verwickelt, und seine Worte klangen so gelehrt, dass es allen die Sprache verschlug. Die Menschen machten „Ah!“ und „Oh!“, so beeindruckt waren sie von der Tiefe, die die Gedanken des Denkerleins wohl haben mussten. Verstanden hatte die Gedanken keiner, aber das schien den meisten auch nicht so wichtig zu sein.

Einige aber wollten es genauer wissen, und so gingen sie zu einem anderen Denkerlein, um sich die Worte des Ersten erklären zu lassen. Das zweite Denkerlein sagte jedoch nur, die Worte des Ersten seien völliger Unsinn. Es sei alles ganz anders. Sie hörten die Erklärung und machten wieder „Ah!“ und „Oh!“. Verstanden hatten sie auch diesmal nichts.

Ein kleines Mädchen fand das alles sehr merkwürdig. Als das Denkerlein wieder einmal vor die Menschen trat, um eine seiner rätselhaften Erkenntnisse zu verkünden, ging das Mädchen deshalb zu ihm und sprach:

„Entschuldigung!“

Das Denkerlein war ganz überrascht, als es das Mädchen auf einmal neben sich stehen sah.

„Ja, mein Kind?“, brachte es langsam hervor.

„Darf ich Sie etwas fragen?“

„Nun ja“, sagte das Denkerlein mit Blick auf die wartende Menschenmenge. „Jetzt ist aber nicht die richtige Zeit dafür. Ich muss nämlich den Menschen etwas Wichtiges sagen.“

„Meine Frage ist aber auch sehr wichtig.“

„Oh“, machte das Denkerlein überrascht und ein klein wenig amüsiert zugleich. „Na, wenn das so ist, dann müssen wir uns wohl Zeit für Deine Frage nehmen. Was möchtest Du denn wissen?“

„Stimmt es, dass Sie ein Philosoph sind?“

„Ja, das stimmt“, machte das Denkerlein und nickte bedeutsam.

„Und ist ein Philosoph nicht einer, der die Weisheit liebt?“

„Ja, auch das stimmt.“

„Und kann man die Weisheit lieben, ohne die Menschen zu lieben? Ohne zu wollen, dass möglichst viele Menschen diese Weisheit teilen?“

„Hmmm“, machte das Denkerlein und überlegte. „Also ich finde, dass man die Weisheit auf jeden Fall mit anderen Menschen teilen sollte. Außerdem sollte man die Menschen nicht weniger lieben als irgendetwas anderes, auch nicht weniger als die Weisheit. Oder was meinst Du?“

„Das finde ich auch.“

Das Denkerlein lächelte zufrieden und wollte sich schon wieder der Menschenmenge zuwenden, als das Kind auf einmal die Stirn runzelte.

„Wenn das so ist“, sagte das Mädchen mit nachdenklicher Stimme, „kann ich aber eines nicht verstehen: wie können Sie die Menschen lieben, obwohl Sie sie doch so schlecht behandeln?“

„Wie bitte?“, brachte das Denkerlein ganz verdutzt hervor.

„Sehen Sie das denn nicht? Sie sprechen mit Worten zu den Menschen, die die Leute nicht verstehen. Und die Menschen können die Weisheit nicht mit Ihnen teilen. Kann man so die Menschen lieben?“

Das Denkerlein machte große Augen. Es klappte den Mund auf, und es klappte ihn wieder zu. Zum ersten Mal war es ganz sprachlos.

Auch Wochen danach war es noch nicht wieder in der Lage, etwas zu sagen. Es ging lange umher, es dachte lange nach. Als es endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, trat es vor das Publikum und sagte: „Es tut mir leid, dass ich all die Jahre so blind gewesen bin. Ich habe nicht bemerkt, wie falsch es war, in meinem Kauderwelsch zu den Menschen zu sprechen. Es musste erst ein Kind kommen, um mir die Augen zu öffnen. Dafür danke ich ihm von ganzem Herzen. Und bei den Menschen möchte ich mich entschuldigen. Ich werde ab sofort versuchen, meine Gedanken besser zu erklären, und auf verwirrende Sprachkunststücke verzichten.“

Einige der anderen Denkerlein lachten insgeheim darüber, denn sie meinten, man könne sehr wohl die Weisheit lieben, ohne die Menschen zu lieben. Aber die meisten waren anderer Ansicht. Sie fanden die Idee des Denkerleins gut und schlossen sich ihm an. So wurde das Denkerlein doch noch ein echter Philosoph.