Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Die übersehene Erkenntnis

von

f. s. montanus

Fassung vom 2. Januar 2017

Am Hof eines Königs weilte einmal ein berühmter Gelehrter. Er hatte durch seine Forschungen herausgefunden, dass Mäuse Mitgefühl füreinander empfinden können, doch der König fand das so sonderbar, dass er es nicht recht glauben konnte.

Da erbot sich der Gelehrte, seine Entdeckung vor den Augen des Königs zu beweisen. Diesem gefiel der Vorschlag, und so versammelte sich am darauffolgenden Tag der ganze Hofstaat, um der Vorführung des Gelehrten beizuwohnen.

In der Mitte des Saales hatten die Hofdiener einen Tisch aufgestellt, auf dem allerlei Apparate aufgebaut waren. Ganz vorne befand sich ein Käfig, in dem zwei weiße Mäuse friedlich hin- und herliefen.

„Majestät!“, sagte der Gelehrte, indem er sich tief vor dem König verbeugte. „Ich danke Euch, dass Ihr mir, Eurem bescheidenen Diener, die Möglichkeit gebt, den Beweis für meine Entdeckung zu erbringen.“

Der König nickte ihm wohlwollend zu. Der Gelehrte verneigte sich abermals. Festen Schrittes ging er zu dem Tisch und hob den Käfig mit den zwei Mäusen in die Höhe.

„Diese Mäuse“, verkündete er dem König und dem versammelten Publikum, „leben schon von klein auf zusammen. Sie sind ein Herz und eine Seele, wie man so sagt. Aber können sie wirklich Mitgefühl füreinander empfinden? Ich werde nun zeigen, dass genau das tatsächlich der Fall ist. Dazu werde ich zunächst die beiden für eine kurze Zeit voneinander trennen.“

Der Gelehrte öffnete vorsichtig den Deckel des Käfigs und nahm eine der beiden Mäuse heraus. Sorgsam verschloss er den Deckel wieder und stellte den Käfig zurück auf den Tisch.

Der Mann hielt das kleine Tier in seiner Hand und zeigte es herum. Dabei streichelte er es ein wenig.

„Wie Ihr sehen könnt“, sagte er, „fühlt sich die Maus ganz wohl in meiner Hand. Ihr geschieht nichts Böses.“

Er streichelte das Tier noch einige Male.

„Ich werde die Maus nun wieder zurück in den Käfig setzen. Bitte achtet darauf, wie sich die andere Maus ihr gegenüber verhält.“

Der Gelehrte tat, wie er gesagt hatte. Zurück in dem Käfig, beschnupperten die Mäuse einander.

„Wie Ihr sehen könnt“, erklärte der Gelehrte dem Publikum, „passiert nichts Besonderes. Die beiden Mäuse begrüßen sich, indem sie sich gegenseitig beschnuppern. Das ist alles.“

Der Mann machte eine kurze Pause und schaute aufmerksam in die Runde.

„Und nun kommt das Entscheidende“, fuhr er fort. „Ich bitte um Eure werte Aufmerksamkeit. Ich nehme die Maus wieder heraus,“ — er tat es — „aber ich werde sie nun nicht mehr so freundlich behandeln wie zuvor.“

Der Gelehrte nahm mit der freien Hand einen Apparat vom Tisch, aus dem zwei silbrige Stöpsel herausragten. In der anderen Hand hielt er die Maus.

„Dieses Gerät“, erklärte er, indem er den Apparat in die Höhe hob, „erzeugt das Wunder der Elektrizität. Wenn ich die silbrigen Kontakte an die Maus halte, wird ein Strom durch die Maus fließen, was sich für das Tier — nun ja — ein wenig unangenehm anfühlt.“

Er hielt die silbrigen Kontakte des Apparats kurz an die Maus. Sie piepste auf und wand sich, um der Hand des Gelehrten zu entkommen. Doch es war vergeblich. Der Mann hielt das kleine Tier mit sicherem Griff. Er wiederholte die Prozedur noch einige Male. Dabei vergewisserte er sich, dass die zweite Maus, die in dem Käfig geblieben war, alles genau beobachten konnte.

„So, das wird wohl genügen“, meinte der Gelehrte schließlich. „Ich werde die Maus jetzt wieder zurück in den Käfig tun. Bitte achtet darauf, wie sich die andere Maus nun verhält.“

Gesagt, getan. Dieses Mal beschnupperte die zweite Maus das traktierte Tier nur kurz. Schnell ging sie dazu über, das andere Tier ausgiebig zu umsorgen.

„Wie Ihr sehen könnt, ist jetzt alles ganz anders. Die Maus in dem Käfig konnte sehen, was mit der anderen Maus geschah. Sie hat ihr Piepsen gehört. Und jetzt tröstet sie sie, indem sie ihr das Fell putzt. Das beweist, dass sie Mitgefühl für das andere Tier empfindet.“

Ein anerkennendes Gemurmel ging durch die Anwesenden, begleitet von einem sanften Klatschen, wie man es nur von vornehmen Leuten kennt. Der König nickte beeindruckt. Der Gelehrte empfand eine große Genugtuung und verneigte sich einige Male vor König und Publikum.

In diesem Moment trat der Hofnarr näher heran. Mit gespieltem Sachverstand begutachtete er den Versuchsaufbau.

„Hmm“, machte er und rieb sich nachdenklich über das Kinn. „Ich sehe wohl, dass Ihr damit bewiesen habt, dass Mäuse Mitgefühl empfinden können.“

Er machte eine Pause. Der Gelehrte lächelte zufrieden.

„Aber“, fügte der Hofnarr schließlich hinzu, „Euer Versuch zeigt noch etwas anderes. Etwas, das Ihr womöglich übersehen habt.“

„So?“, machte der Gelehrte erstaunt. „Und was ist das?“

„Nun, ganz einfach“, gab der Hofnarr mit einem schelmenhaften Grinsen zurück. „Euer Versuch zeigt auch, dass es Menschen gibt, die so wenig Mitgefühl verspüren, dass sie bereitwillig kleine Mäuse quälen, nur um zu zeigen, dass diese Mitgefühl empfinden können. Das ist doch mindestens ebenso interessant, nicht wahr?“

Der ganze Hofstaat lachte. Die Damen verbargen die Gesichter hinter ihren Fächern und tuschelten miteinander. Sogar der König schmunzelte, als er die Worte des Hofnarren vernommen hatte.

Die Miene des Gelehrten aber erstarrte förmlich zu Eis. Noch nie war er in aller Öffentlichkeit so herabgewürdigt worden. Er fühlte sich zutiefst beleidigt. Noch am selben Tag verließ er den Hof des Königs und schwor sich, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren, an dem man ihn so schändlich behandelt hatte.